„Hallo Daniel, habe Bilder der Modellnachbildung Deines Bahnhofs Lenzburg-Stadt im Internet gesehen. Würde gerne mehr erfahren ... “.
Ohne dass Daniel oder ich es damals ahnten, begann so im Januar 2005 die Rettungsaktion einer Normalspurweiche aus der Länderbahnzeit, etwa 1880, die warscheinlich das letze Exemplar in Westeuropa aus dieser Zeit darstellt. Daniel besuchte das Länderbahn-Forum, und schickte für meine Sammlung von Weichenbildern ein Bild einer symmetrischen Doppelweiche vom abgerissenen Bahnhofs Lenzburg-Stadt der ehemaligen Seetalbahn. Lenzburg liegt etwa 30km süd-westlich von Zürich in der Schweiz. Wie unter „Zeichnungen“, „Oberbau“ zu sehen ist, kamen zur Länderbahnzeit symmetrische Doppelweichen oft zur Anwendung, zum Beginn der Länderbahnzeit sogar im Hauptgleis, später noch noch auf Nebenbahnen und Rangier/Nebengeleisen.
Um für die Galerie diese Weiche zu protraitieren, fragte ich nach Detailaufnahmen des Zungen-, Gelenk- und Herstückbereichs. Tags darauf kam schon die Email mit einer Sensation: sie zeigte den Abstützkörper eines Voegele Spitzenverschluß. Genau der Verschluß der zum Beitrag „Weichenverriegelungen und Weichenschlösser der kgl.bay.Sts.B“ seit langem gesucht wurde. Daniel hatte für seine Bahnhofsmodell Lenzburg-Stadt diese Weiche nachgebaut, und deshalb schon Photos geschossen.
Beim betrachten der Bilder von Daniel versuchte ich herauszubekommen, ob hier eine deutsche Länderbahn Bauart in die Schweiz geliefert wurde. Daniel schrieb, dass die gesammte Strecke der Seethalbahn in der Länge von etwa 4km von der Firma Voegele aus Mannheim gebaut wurde. Die Schweiz hatte damals keine große Eisenindustrie entwickelt, so nahm ich an, dass die Firma Voegele nach existierenden Länderbahnplänen die Gleisausrüstung inklusive Stellwerkstechnik lieferte. Die Bilder ließen es durchaus zu, dass sich einen bayerische symmetrische Doppelweiche in die Schweiz aufmachte. Also reifte der Gedanke, der Geschichte auf den Grund zu gehen und selber vor Ort zu fotografieren und ein Video des Weichenverschlusses in Bewegung für den schon genannten Beitrag „Weichenverriegelungen und Weichenschlösser der kgl.bay.Sts.B“ unter „Multimedia“ zu erstellen. Die Hiobsbotschaft erreichte mich schon am nächsten Tag: die Strecke wird spätestens Ende März abgerissen.
Nun musste rasch gehandelt werden. So bat ich Daniel zu klären, wie die Weiche bedient werden kann - sie war mit einem Schloß gesichert - um Videoaufnahmen zu machen ohne den Betrieb zu stören, der noch bis fast Ende März 2005 abgewickelt werden sollte. Andererseits musste die Weiche doch vor dem Hochofen gerettet werden können! Einige Emails an bayerische Eisenbahnvereine wurden verschickt und wurden mit einer Frage beantwortet: zunächst ehrliches Erstaunen, dass es so eine Weichenbauart überhaupt gegeben hat, man hat dies für eine Erfindung von Märklin für die Modelleisenbahn gehalten, aber wie kann eine bayerische Weiche in die Schweiz gelangen? Nachdem der preussische Hakenverschluss in Österreich zur Anwendung kam, die k.p.E.V in Bayern eine Stecke gebaut und betrieben hatte als auch feststehende Weichenlaternen nach bayrischem Vorbild in Wien dokumentiert sind, schien nichts unmöglich. Wieder bat ich Daniel, ob er das Schienenprofil vermessen kann, und ob er vielleicht eine Masskizze der Doppelweiche erstellt habe. Prompt kamen die Masse und die Ernüchterung: das Schienenprofil von Hoesch und Röchling entspricht keiner bayerischen Normalie, die Weichenabmessungen deuten aber auf eine badische Normalie hin. Eine Recherche in den einschlägigen Archiven ergab, dass das Profil auch keiner badischen Normalie entsprach. Der Schienefuß war 5mm grösser als der der badischen Normalie (heute weiss ich, dass es ein Saarprofil ist). Daraufhin sprangen die bayerischen Vereine ab. Es war zum Haar raufen.
Nun waren es nur noch 3 Wochen bis zum Abriß und ich bat Daniel, ob nicht er irgendeinen Kontakt hat, der die Weiche für die Nachwelt erhalten kann. Mit der Zusage, sich umzuhören teilte er mir mit, dass die SBB die Genehmigung zum öffnen der Weiche nicht erteilt hat, solange Betrieb darauf stattfindet. Jetzt wurde es knapp: es konnte also nur nach Betriebsende (31. März) die Weiche geöffnet werden, und das musste gegen die Zeit im Wettlauf mit dem Gleisbautrupp der SBB geschehen. So wurde der 2. April 2005 für die Foto- und Videoaufnahmen bestimmt, wie auch immer das Wetter sein mochte.
Freitag den 1. April um 06:41 früh erhielt ich Email von Daniel: der Streckenabbau hat bereits am 30. März begonnen - also 2 Tage früher als ursprüglich geplant -, die Strecke ist fast vollständig abgebaut, ob die Weiche Abends noch liegt ist ungewiss, aber um 13:00 Uhr kommen Mitarbeiter der SBB Historic vorbei, um das Juwel zu begutachten. Schlimmer konnte es nicht kommen, ich hatte alles vorbereitet, Kamera und Videokamera waren aufgeladen, der Wagen aufgetankt und meine Frau und ich bereit, am 2. April, 5 Uhr morgens, loszufahren.
Abends das erlösende Telefonat: ja, die SBB Historic hat die Weiche gesehen und sofort für ihr Museum aquiriert. Die Herren war mehr als erstaunt, dass noch so eine Weiche exisitert. In den SBB Unterlagen war diese nicht mehr verzeichnet. „Wir haben unwarscheinliches Glück gehabt, der Gleisbautrupp der SBB hat sich bis auf 100 Meter an die Weiche herangearbeitet“ (siehe Abb. 1) meinte Daniel, „ aber die Weichenstellhebel sind abgeschnitten und warscheinlich dem Klau zum Opfer gefallen. Die Weiche kann nur noch mit einem Brecheisen gestellt werden“.
Freitag, der 2. April 2005, 5 Uhr früh ging die Fahrt dann los, nach Lenzburg. Um 11 Uhr kamen wir leicht müde an und die Fotos für diesen Beitrag wurden gemacht. Daniel zusammen mit Eisenbahnfreund Mik, denen ich beide dafür herzlich danke, haben die Weiche mit Brecheisen noch einmal gestellt. Das das nicht so geschmeidig wie sonst üblich aussehen kann war nicht mehr wichtig, Glück war es, daß wir sie überhaupt bewegen konnten, auch wenn es Mik nur mit anstrengenden Schlägen schaffte. Das Video, dass Sie unter der Rubrik Multimedia, „Bewegungsablauf des Spitzenverschluss Patent Vögele, Vorstellung der symmetrischen Doppelweiche in Lenzburg“ ansehen können, bezeugt davon.
Am 13. April erhielt ich wieder Post von Daniel: „... Die Weiche war sogar Thema in der Zeitung, die SBBHistoric hat sich bereit erklärt, wenn der ansässige Industriekulturverein die Möglichkeit hat, die Weiche als Langzeitleihgabe auszustellen in Lenzburg ...“.
So wurde dieses Juwel gerettet, weil Daniel ein Bahnhofsbild im Internet veröffentlichte, ich das zufällig sah, er mir ein Bild der Weiche schickte und daraufhin eine gemeinsame Rettungsaktion gestartet wurde und zum Schuss die Weiche möglicherweise in Lenzburg verbleibt um im Industrieforum ausgestellt zu werden. Ist das nicht verrückt, das Leben schreibt seltsame Geschichten. Der ganze Aufwand war es mir für meine Leser und natürlich mich wert. Ich hoffe, es ist für auch Sie ein Gewinn.
Zum Abschluss noch ein Leckerbissen aus dem Jahr 1926: Seetalkrokodil De 6/6 15302 frisch abgeliefert auf der Vögele Weiche.