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Hans Baluschek: Die Poesie der Eisenbahn
von Artur Fürst (1912)


Artur Fürst (* 23.02.1880, † 13.05.1926)
Aufgestöbert von Dr. Andreas Werner

Wenn die Aeroplane erst so weit ausgebildet sein werden, daß man auf ihnen mit voller Sicherheit in große Höhen hinaufsteigen and auch beträchtliche Lasten mit empornehmen kann, dann wird es sicher ein sehr großes Vergnügen sein, aus zwei- oder dreitausend Metern Höhe mit einem guten großen Fernrohr auf die Erde hinabzuschauen. Man wird dann imstande sein, einen weit größeren Umkreis auf einmal mit dem Auge zu erfassen, als das bisher jemals einem Menschen beschieden war. Es ist schwer, den Eindruck zu schildern, den man haben wird, wenn man viele Dutzende voneinander getrennt liegender Orte und das Gelände, das sich zwischen ihnen breitet, zu gleicher Zeit erblickt. Man wird dann erst eine wirkliche Vorstellung von der Gestaltung der Erdoberfläche erhalten, die wir ja alle bisher nur aus dem Trugbild der Landkarte kennen. Man wird dann lange Flußläufe verfolgen, Gebirgszüge in ihrem Zusammenhang studieren, die Umrißlinien von Städten miteinander vergleichen können - aber das allerauffälligste wird wahrscheinlich doch der Anblick der kurzen dunklen Schlangen sein, die, von einer weißen Wolke überflattert, überall aus allen Richtungen and nach jeder Himmelsgegend über die Erde kriechen. Der Eindruck, den der Anblick der vielen über die grünen Felder dahineilenden Eisenbahnzüge macht, dürfte die Erdbeschauer am Fernrohr auf dem Aeroplan am meisten gefangen nehmen.

Selbst wenn der dicke gelbe Band des Reichskursbuchs vor uns liegt mit seinen vielen hundert Seiten, seinen endlosen Zahlenreihen and der unerschöpflichen Fülle verschiedener Strecken, haben wir keine rechte Vorstellung von der ungeheuer großen Zahl der Züge, die während jeder Minute am Tage und in der Nacht in Bewegung sind. Es wäre ja wohl möglich, auszurechnen, wieviel Milliarden Zentner an Wagen-, Maschinen- und Ladegewicht im ganzen Deutschen Reich täglich über die Schienen rollen, aber, um den ungeheuren, ganz unvergleichlich großen Betrieb, der sich Eisenbahn nennt, voll würdigen zu können, müßte man doch wenigstens einen großeren Ausschnitt auf einmal zu überschauen vermögen. Die preußisch-hessische Eisenbahn ist bekanntlich das größte industrielle Unternehmen auf der ganzen Erde, umfangreicher and bedeutender als jeder der amerikanischen Riesentrusts, und dieser Betrieb versorgt doch nur einen geringen Teil von Europa mit Fahrgelegenheit, besitzt nur einen ganz bescheidenen Bruchteil der Schienenlänge, die über die ganze Erde gebreitet ist.

Es ist unmöglich, sich das unendliche Gewimmel der jederzeit durch alle Länder sausenden Züge in seiner Gesamtheit vorzustellen. Das geht über das Auffassungsvermögen des menschlichen Gehirns hinaus, des Gehirns jener Menschen, die dieses Schienenwirrsal doch geschaffen haben. Mannigfaltig genug ist schon der Eindruck, den ein großer Bahnhof, eine Verzweigungsstelle auf einer wichtigen Schnellzugstrecke und die große Zahl der Vorrichtungen und Apparate machen, die aufgestellt sind, um Ordnung in das Chaos zu bringen, Sicherheit den Reisenden zu gewährleisten. Sehr wenige technische Betriebe nur können sich in der Größe der Impression, in der Poesie der Bilder, die sich dem suchenden Auge darbieten, mit der Eisenbahn vergleichen. Das ernste technische Bild der Strecke, die sich rauh und exakt, von mathematischen Linien begrenzt und allen Zufälligkeiten abhold mitten durch das lustige Grün der Wiesen zieht, über Flüsse hinweg, durch Berge hindurch, steht im schroffen Gegensatz zu diesen Gebilden, die, ungebändigt in all ihren Formen, nach Gefallen und Willkür ihren Platz in der Welt einnehmen. An dem klapperigen, ländlichen Fuhrwerk, an dem hochbeladenen Düngerwagen, die vor der Schranke halten, vorbei, saust die vornehme Exaktheit des Zuges, die Strahlen einer intensiven Beleuchtung, die des Abends aus den Fenstern des Speisewagens brechen, huschen über die Wände dörflicher Häuschen, in denen ein bescheidenes Lämpchen schwelt. Das Donnern der hochgetürmten Lokomotivräder auf den Schienen trägt den hallenden Ton des modernen Lebens auch in die entlegensten Weiler. Romantisch ist der Anblick der breitbrüstig dahinrollenden Lokomotive, der farbigen Signalmaste mit den seltsam gestikulierenden Armen, eigenartig und fesselnd jede der zahllosen Vorrichtungen, die getroffen sind, um die dahinrollenden Riesengewichte zu bändigen und in die rechten Wege zu führen.

Hans Baluschek hat das Bild der Eisenbahnstrecke, der darauf verkehrenden Betriebsmittel und der bunten Zahl der Sicherungsapparate in dieser Weise aufgefaßt. Beinahe ein ganzes Künstlerleben hat diese starke Persönlichkeit dazu aufgewendet, die Poesie der Eisenbahn im Bilde aufzuzeigen und festzuhalten. Gern stellt Baluschek die harten Kanten des Zuges mitten in die weichen Konturen des Geländes, die wilde Wucht der fauchenden Schnellzugmaschine gegen die zarte Bewegung der vom Wind leicht geschaukelten Bäume. Dieser Maler besitzt Eigenschaften, die für künstlerische Arbeiten in diesem Stoffgebiet unerläßlich sind: eine starke Liebe zu dem ganzen Komplex der Dinge, die den Eisenbahnbetrieb ausmachen, und gute technische Kenntnisse. In seinem Atelier sieht man überall wunderhübsche kleine Modelle der neuesten Lokomotivgattungen aufgestellt, keine leichten Spielzeugkonstruktionen, sondern technisch genau gearbeitete zierliche Abbilder der Riesenmaschinen, die draußen die Züge befördern. Signalstationen, Läuteanlagen und viele andere zarte Details des Eisenbahnbetriebs stehen gleichfalls in guten, gebrauchsfähigen Abbildern ringsherum. Diese kleinen Apparate sind des Künstlers liebster Umgang. Und so entstanden die Eisenbahnbilder, die seinen Namen berühmt gemacht haben: aus der Leidenschaft zu dem Stoff und der genauesten Kenntnis seiner intimsten Einzelheiten. Auf dem bekannten Gemälde „Der Bahnhof“ kann man beobachten, daß bei der trefflichen Konzipierung des Ganzen mit seiner nach rein künstlerischen Motiven vorgenommenen Verteilung der Massen und des Lichts doch jede Gleiskreuzung betriebstechnisch richtig eingezeichnet ist, daß alle Weichen, alle Signale so stehen, wie die Sicherheit des dahinfahrenden Zuges es erfordert, daß jeder Zuggattung, ob Schnell-, Güter- oder Personenzug, eine Lokomotive von dem richtigen Typ vorgespannt ist.

Bild Anfahrender Schnellzug. Ölbild, Hans Baluschek
Abb.: Anfahrender Schnellzug. Ölbild, Hans Baluschek.

Baluschek entdeckt überall im Eisenbahnbetrieb künstlerische Eindrücke und Bilder voll Poesie. Und so muß ein jeder empfinden, der ein offenes Auge für diese Dinge hat. Betrachten wir eine der allerwichtigsten Einrichtungen im Reich der Schienen, die gewaltige, Sicherheit bringende Anlage, die man Blockstation nennt.

Droben auf seinem Turm steht in reiner, einsamer Höhe der Blockwärter. Durch die Fenster des Stellwerks überblickt er weithin sein Herrschaftsgebiet. Aus blauer Ferne laufen die von nimmer müden Zugachsen schimmernd polierten Silberbänder von vier Schienenpaaren heran, um sich wieder in blaue Ferne zu verlieren. Bevor aber die acht reinen Linien, die von Süden herangekommen sind, im Norden wieder in gleicher Zahl und Klarheit davonziehen, haben sie sich wie ein Fluß im Bruchgebiet in ein Geflecht kleiner Arme aufgelöst, die herüber and hinüber fließen, durcheinanderschießen, sich kreuzen, überschneiden, das Schienengewirr eines großen Bahnhofs bilden.

Das ist das Herrschaftsgebiet des Mannes dort oben auf dem Stellwerksturm. Seine Hand, dieses schwächliche Gebilde aus Fleisch und Bein, führt die ungeheuren Schnellzugmaschinen, die mit ihren zwölfhundert Pferdekräften and der Last eines ganzen D-Zuges am Fuße seines Turmes ohne Halten vorbeistürmen auf ihrer Bahn, sie zwingt den hundert Achsen langen Güterzug an einer bestimmten Stelle unter zornigem Dampfpusten und unwilligem Bremsenknirschen haltzumachen, sie erteilt durch eine gnädige Bewegung dem vollbesetzten Personenzug die Erlaubnis, die sehnsüchtigen Menschen aus der dunklen Bahnhofshalle hinauszutragen in den Sonnenschein und in die Welt dort weit, weit hinter dem Saum des Waldes, der die silbernen Schienenbänder in sein Dunkel aufnimmt.

Es sind vier enge Wände, zwischen denen der Stellwerksmann haust, aber sie umschließen das Schicksal Unzähliger. In dem schmalen Raum wird über das Leben all derer gewacht, die vertrauensvoll und ohne Kenntnis der für sie getroffenen Sicherheitsmaßregeln am Turm vorbeifahren.

Mit neunzig Kilometern Schnelligkeit stürmt den D-Zug heran. Die Fenster des Turmes erbeben unter dem Gewicht der bewegten Massen. Gen Norden drängt die ungeheure Lokomotive. Da - der Herzschlag stockt dem eines solchen Anblicks ungewohnten Besucher des Stellwerks - kommt von Norden her ein rangierender Güterzug auf einem Gleis angekeucht, das direkt in die Schnellzugsbahn einmündet. Wenn beide sich an der Kreuzungsstelle treffen! Welch ein unabsehbares Unglück! Und schon ist den Schnellzug heran and auch schon wieder weit weg. Es ist ihm nichts geschehen. Den Mann im Stellwerk hat den Rangierzug durch ein auf „Halt!“ stehendes Signal rechtzeitig zurückgehalten, ja er hat auf das Güterzuggleis sogar einen schweren, feuerrot angestrichenen Eisenklotz gelegt, der die Rangierlokomotive zur Entgleisung gebracht hätte, wenn sie sich dem Schnellzuggleis trotz des warnendcn Signals allzuweit genähert haben würde.

Aus dem Bahnhof ist eben ein Personenzug nach der nächsten Station abgelassen worden. Der Signalflügel war vom Stellwerk aus auf „Freie Fahrt!“ gezogen worden, und über ein halbes Dutzend Weichen hinweg hatte der Zug glücklich seinen Weg in die Ferne gefunden. Jetzt steht an derselben Stelle im Bahnhof ein anderer Zug, dessen Fahrt hier zu Ende ist, der auf ein Aufstellgleis übergeführt werden soIl. Dorthin geht es nun durch ein stählernes Gestrüpp, durch ein Wirrnis von Schienen. Das ungeübte Auge kann die Anzahl der Weichen gar nicht übersehen, die umgestellt werden müssen, damit die Fahrt ohne Unfall vonstatten geht. Werden sie auch alle richtig liegen? fragt man sich nicht ohne Bangen. Ein zweiflügeliges Signal steigt empor, und der Leerzug fährt ab. Mit größter Sicherheit rollen die Achsen quer über zehn Stränge hinüber, gleiten in Anschlüsse hinein, wieder aus ihnen hinaus, bis der Zug glücklich das Aufstellgleis erreicht hat. All die beweglichen Schienenstücke, alle Weichenzünglein haben richtig gelegen, der Mann im Stellwerk verdient ein Lob.

Der Mann im Stellwerk? Er ist es nicht so sehr, der das Lob beanspruchen darf, wie das Stellwerk selbst. Es ist ein mehrere Meter langer, grün angestrichener Kasten, aus dem eine Unzahl elektrischer Kontaktknöpfe herausgucken. Bald sind sie leuchtend gelb von blankem Messing, bald weiß mit einem roten oder grau mit einem blauen Strich; über und unter und neben ihnen aber gibt es noch ebensoviele runde und eckige Fensterchen, hinter denen abwechselnd bald schwarze, bald rote, weiße and gestreifte Scheiben erscheinen. Und in diesem Apparat, hinter den mit Kunstschlössern and amtlichen Plomben feierlich verschlossenen grünen Wänden poltert and rumort es unausgesetzt, auch wenn keiner der Knöpfe berührt wird, es knackt and knickst and klingelt.

Aber dieses ganze ungeheure Wirrsal ist genau das Gegenteil von dem, was es scheint; es ist die Körper gewordene Ordnung. Denn die Hand des Wärters kann viel bewirken: Signale stellen, Weichen verschieben, Scheiben and Laternen drehen auf einem Gebiet, soweit das Auge reicht - sie kann nur eins nicht: nämlich einen Fehler machen.

Soweit menschliche Künste gehen, ist in solch ein modernes, elektrisch betriebenes Stellwerk nicht nur die Bedienung, sondern auch die Sicherheit des Bahnhofs gelegt. Ganz unmöglich ist es dem Wärter, zwei Signale zu gleicher Zeit zu ziehen, die einander kreuzende Geleise bewachen. Er kann dem durchlaufenden Schnellzug nicht freie Fahrt geben, wenn er nicht vorher dem Rangierzug den Zutritt zu der Fahrbahn des durchgehenden Zuges gesperrt hat. Er vermag nicht dem im Bahnhof wartenden Personenzug, der zur nächsten Station will, sein einflügeliges Abfahrtssignal zu geben, wenn nicht sämtliche Weichen für die Fernfahrt richtig gestellt sind, und er kann dem folgenden Leerzug das zweiflügelige Signal erst ziehen, wenn er vorher sämtliche Weichen so gelegt hat, daß der Schienenweg auf das Aufstellgleis führt.

In dem grünen Stellwerkskasten sitzt mit hellen Augen ein kleines Geistchen, das Exaktheit heißt und sich durch kein Lokomotivengebraus, kein Knacken and Klingeln beirren läßt. Wenn der Wärter einen falschen Griff tun will, hält das Geistchen den elektrischen Strom gleich auf und läßt ihn nicht die gefährliche Bahn laufen. Wenn der Wärter dem durchrasenden Schnellzug das Signal „Freie Fahrt!“ gegeben hat, so erlaubt der Geist des Stellwerks nicht mehr, daß an irgendeiner Weiche etwas gestellt wird, die zur Fahrstraße dieses Schnellzugs gehört. Er gestattet aber auch nicht eher, das Schnellzugssignal zu ziehen, bis alle zugehörigen Weichen richtig liegen. So schafft er gottgewollte Abhängigkeiten, die hier einmal sehr gute Wirkung üben.

Es ist der Grundgedanke der Stellwerksanlagen, alle auf denselben Kreuzungspunkt führenden Signale and Weichen in Abhängigkeit voneinander zu bringen, so daß ein Zusammentreffen von Zügen oder Zugteilen an diesen Gefahrpunkten ausgeschlossen ist. Wenn dort hinten am Waldessaum jenes hochragende Signal gezogen ist, so kann man sicher sein, daß der Flügel hier dicht am Stellwerk auf Halt steht, denn die beiden sind „feindliche Signale“, die ihnen zugehörenden Gleise führen aus zwei Richtungen auf denselben Strang. Die großartigste Vorsichtsmaßregel aber ist die Fahrstraßensicherung, eine Einrichtung, die alle zu einer Fahrstraße gehörenden Weichen fest verriegelt hält, solange das zugehörige Signal gezogen ist. Man kann die Unzahl der Knöpfe, Hebel and Griffe, die zur Herstellung einer langen Fahrstraße dienen, kaum übersehen. Die Lust am Eisenbahnfahren würde einem nach solchem Besuche gründlich vergehen, wenn man nicht den Geist des Stellwerks tätig wüßte. Denn so viele Knöpfe, Hebel and Griffe, so viele Gefahrenquellen würde es geben, wenn der Wärter alles nach freiem Ermessen betätigen könnte. Da verläßt man sich schon lieber auf diesen eisernen Gehirnkasten, wenngleich auch er leider, wie wir wissen, einmal versagen kann.

Zu den Obliegenheiten eines Stellwerks gehört aber nicht allein die Besorgung des eignen Bahnhofs, es steht auch mit der davor- and dahinterliegenden Strecke in ständiger Verbindung. Die Vorstation meldet durch ein Klingelsignal den eben abgelassenen Zug an, damit der Blockwärter seine Fahrstraße für den zu erwartenden, ihm seiner Art nach durch den Fahrplan bekannten Zug richtig und rechtzeitig zusammenstellen kann, so daß kein unnötiger Aufenthalt entsteht. Der angekommene Zug ist nach rückwärts abzumelden, denn die Vorstation kann ihr Ausfahrtsignal erst dann wieder ziehen, wenn diese Benachrichtigung eingetroffen, die Strecke also frei ist.

Nun muß man aber nicht etwa glauben, daß die Züge selbst bei allen diesen Vorgängen nur eine passive Rolle spielen. O nein! Es ist ihnen reichlich Gelegenheit gegeben, ihre Gegenwart und ihr Davongehen dem Stellwerk ganz direkt auf elektrischem Wege kundzutun. An bestimmten Stellen befinden sich unter den Schienen Kontakte, die durch das Gewicht des hinüberfahrenden Zuges betätigt werden. Im Stellwerk werden dadurch akustische und optische Signale ausgelöst, es werden auch auf diesem Wege durch die Zugachsen Weichen und Signalverriegelungen aufgehoben oder hervorgerufen, ja die Züge legen oft von selbst ihre Durchfahrtsignale hinter sich auf Halt, was dann dem Stellwerk wieder durch ein Signal kund wird.

Man kann sich ungefähr vorstellen, welch ein wilder Tanz der farbigen Scheiben hinter den kleinen Fenstern des großen grünen Apparatekastens und welch ein höllisches Konzert von Klingel- and Knacksignalen in einem großen Stellwerk zu lebhaften Verkehrszeiten sich abspielt. Es ist ein ewiges Auf and Ab, ein Schrillern and Hämmern, ein Klirren and Knacken, in das noch das Rollen der Züge und das Zischen des Lokomotivdampfes hineinschallen. Der gellende Schrei des modernen Verkehrs tönt von den vier engen Wänden wieder.

Bei den Stellwerken älterer Bauart sind noch heute zum Stellen den Signale und der Weichen mächtige Hebel umzulegen, durch deren Betätigung lange Drahtzüge in Bewegung gesetzt werden. Da haben die Wärter auch tüchtige körperliche Arbeit zu leisten. Um ihnen diese abzunehmen und ihnen mehr Zeit zum Kontrollieren des ganzen Apparats zu geben, sind die elektrischen Stellwerke eingeführt worden, die zugleich noch eine feinere Sicherung gewährleisten. Damit nun das spielend leichte Drehen der kleinen Kontakte die Bewegung der sehr schweren Eisenstücke an den gewünschten Stellen bewirkt, hat jedes Signal und jede Weiche einen eigenen Elektromotor. Nun könnte es vorkommen, daß durch irgendeine Störung ein solcher Elektromotor nicht anspringt. Beiden Signalen bedeutete das keine Gefahr, denn diese würden in einem solchen Fall immer auf „Halt!“ bleiben, aber eine Weiche, die nicht, wie der Wärter annimmt, sich umgelegt hat, könnte leicht eine Katastrophe herbeiführen. Damit das nicht geschehen kann, zeigt jede Weiche ihren Stand im Stellwerk an, und wenn die feine Zunge nicht ganz exakt an der Mutterschiene liegt, etwa deshalb, weil ein Fremdkörper dazwischengefallen ist, ertönt sofort eine scharfe Klingel. Die Weiche heult, wie der Fachmann sagt. Eine weitere Bereicherung des höllischen Konzerts im Stellwerk.

Hier oben im Turm pulst das heiße Leben des modernen Verkehrs. Die elektrischen Nerven, die von allen Schienen, Weichen und Signalen her diesem Gehirn des Bahnhofs zustreben, zucken fortwährend, und die Aeußerungen ihres Arbeitens, dieses ununterbrochene Knacken and Klingeln reißt auch an den Nerven der Menschen, die das Stellwerk bedienen. Nicht alle Eisenbahnbeamten sind in gleicher Weise vom tosenden Geräusch des Verkehrs umwirbelt. Der Wärter, der die Wegschranken mitten im Wald oder an einer von allen anderen Behausungen weit entfernten Stelle im Feld zu bedienen hat, lebt ruhig und einsam dahin, hat fast gar keine Fühlung mit dem Betrieb, dem er dient. Er führt ein friedliches, stilles Dasein zwischen seinen Hühnern und in seinem Gärtchen, sein stiller Sinn ist auf ganz andere Dinge gerichtet, als Eisenbahn, hastiges Getriebe and lauernde Gefahren.

Der Reisende steht im Gang des D-Zuges an dem breiten, hohen Fenster und genießt den Eindruck der Landschaft, die sich bei der hohen Geschwindigkeit des Zuges unausgesetzt ändert. Immer und immer wieder, nach einem Abstand von wenigen Minuten, wird die Strecke von einer Chaussee überquert. Man sieht schon aus weiter Ferne die beiden parallelen Baumreihen auf die Geleise zueilen. Wenn der Zug die Kreuzung passiert, schaut man immer dasselbe Bild: einen Mann, der vor der geschlossenen Schranke steht, eine zusammengerollte Fahne in der Hand. Der Wärter hat zwar eine Dienstmütze auf, aber an seiner Kleidung und seiner Haltung kann man meistenteils schon erkennen, daß er so ganz anders ist als alle übrigen Eisenbahnbeamten. Für jene ist das Treiben auf den Geleisen alles, für ihn ist der vorüberfahrende Zug nur eine Episode. Der Spaten, mit dem er sein Aeckerchen umgegraben, bevor er auf seinem Platz vor der Schranke den Zug vorbeipassieren läßt, steckt noch im Sande; ehe der Reisende das nächste Wärterhäuschen erreicht hat, wird der Mann sich schon wieder bei seiner beschaulichen rustikalen Tätigkeit befinden. Er ist vielleicht noch nie mit der Eisenbahn gefahren. Aus seinen Augen schaut meist noch nicht einmal die Sehnsucht nach der Welt, aus der die an ihm vorüberfahrenden Züge hervorbrechen, zu der all die Leute streben, die er durch die Fenster in den Abteilen sitzen sieht.

Die einzige Verbindung. die solch ein Schrankenwärter auf der freien Strecke mit dem Eisenbahnbetrieb hat, ist der Telegraphendraht, der unmittelbar vor der Bude sich von der hohen hölzernen Stange herabsenkt, rasch in den Kasten der großen Meldeglocke hineinläuft, um dann sofort wieder zu seinen vielen Kameraden dort oben hinaufzusteigen und mit ihnen vereint über Tausende von Porzellanknöpfen hinweg in die neblige Ferne zu ziehen. Mit Hilfe dieses Drahtes und der von ihm bedienten Glocke wird jeder Zug, wenn er eine Station verläßt, allen Schrankenposten angezeigt, die zwischen dieser und der nächsten Signalstelle liegen. Der elektrische Strom hebt in dem Glockenkasten einen Anker aus, worauf sich ein darin befindliches Uhrwerk in Bewegung setzt und die Glocke eine bestimmte Anzahl schwerer, hell und weit klingender Schläge tun läßt.

Der Klang von der großen Glockenschale fliegt weit über die stillen Felder. Er ist, wenn man ihn aus einiger Entfernung hört, wohllautend und aufrüttelnd zugleich. Oft bin ich als Junge aus meiner kleinen Heimatstadt hinaus auf die Chaussee an die Bahnkreuzung gelaufen, weil dieses rhythmische Klingen, das auf so geheimnisvolle Weise durch unsichtbare Hände von fern hervorgerufen wurde und das kommende Ereignis des vorbeibrausenden Zuges ankündigte, mir immer höchst romantisch erschien. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die imponierende Gestalt dieses hochragenden Glockengestells mit der dunklen metallenen Schale auf dem Haupt, gegen die der große Hammer immer fünfmal sehr kräftig zu schlagen pflegte. Das Rascheln des elektrisch ausgelösten Uhrwerks im Innern des Apparats, das man in der Stille zwischen den einzelnen Schlägen deutlich hören konnte, erhöhte noch die Seltsamkeit dieses Vorgangs.

Für den Schrankenwärter freilich hat dieses Meldeläuten recht wenig Romantisches. Er hört es fortwährend - und darum hört er es bald überhaupt nicht mehr. Der Klang der großen Glocke zählt zu den Geräuschen, die sein Ohr aufnimmt, ohne daß im Gehirn irgend eine Reaktion ausgelöst würde. Und das ist der Grund für die Gefahr, die schließlich an jedem Ueberweg auf den Zug lauert.

Friedlich liegt das Äckerchen des Überwegwärters neben der Bude. Runde Kohlköpfe wölben sich aus wohlbehüteten Beeten; Schoten, Schnittlauch und Mohrrüben können geerntet werden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Es ist so recht ein munteres, grünes, deutsches Stückchen Land, das der Mann aus dem kleinen backsteinernen Häuschen versorgt und bestellt. Ruhe und tiefer Friede sind darüber gebreitet. Doch unmittelbar davor zieht sich finster und unfruchtbar der Bahndamm hin. Mit eisernen Kappen auf den Köpfen liegen die Schwellen tief in bräunlichen Steinen, im Kleinschlag begraben. Darauf die von den schweren Fahrzeugen blitzblank polierten Schienen, an jeder Schwelle genau gleichmäßig mit zwei Schrauben befestigt, die gleich langen Abschnitte stets durch dieselbe Lasche mit immer der gleichen Zahl von Bolzen und Muttern verbunden. Nach rechts und links hin läuft der Schienenstrang, mit immer gleichem Aussehen ins Weite, ins Unendliche. Trostlos öde ist der Anblick dieser schmalen, bräunlichen Ebene mit den vier blinkend weißen Strichen darauf.

Im Garten des Schrankenwärters zirpen die Grillen. In den Baumkronen des nahen Waldes singen die Vögel. Die Telegraphendrähte summen einen tiefen Unterton dazu. Da erschallt von fernher ein leises Donnern. Eine weiße Rauchfahne fliegt dort hinten empor. Um die Kurve saust mit voller Fahrgeschwindigkeit der Schnellzug. Man nimmt, wenn man am Wärterhäuschen steht, gerade die Umrisse der Lokomotive wahr, die in stolzer Haltung, mit breiter Brust heranstürmt. Aus jedem der beiden Zylinder strömt ein kleines Dampfwölkchen rasch zerflatternd nach unten. Man erfaßt das alles kaum mit dem Blick, dann ist der Zug schon da, schon am Ueberweg. Der Wärter, der dieses Rasenden gewohnt ist, steht vor der Schranke, dicht am Gleis. Der Unerfahrene, wenn er dicht neben dem Manne zu bleiben versucht, prallt zurück, muß angstvoll fliehen. Denn tosend ist das Geräusch der Räder auf den Schienen. Die Erde wird weithin von der in rasendem Lauf vorwärtsstürmenden Riesenlast erschüttert. Krachend schlagen die Radreifen an den Stoßstellen gegen die Schienenköpfe. Die Gleise biegen sich in tiefen Kurven nach unten, die Schwellen hüpfen, als wenn sie auf Gummi gelagert wären. Hier und da fliegt ein Steinchen aus der Bettung empor, durch jähen Stoß herausgeschleudert. Schwindelerregend ist die überrasche, wirre Bewegung der blanken Getriebestangen an der Maschine. Ein wirbelnder Luftstrom geht von dem Zuge aus. Man greift an seinen Hut, der davonfliegen will - da ist das Schreckliche auch schon vorbei. Aus der Entfernung noch sieht man die rote Schlußscheibe zurückleuchten, ein Wölkchen noch am Horizont, ein fernes Donnern, dann ist alles still. Der Wärter öffnet die Schranke wieder und setzt sich mit seinem Pfeifchen gemütlich vor die Tür seiner Bude.

Der Mann aber, in dessen Hand die Sicherheit des Zuges direkt und in besonders hohem Maße gelegt ist, steht aufrecht und mit angespannter Aufmerksamkeit auf der Schnellzugmaschine. Sein Ohr ist durch die Geräusche, die das Zischen des mächtigen Dampfkessels vor ihm, das Donnern der Wagenreihe in seinem Rücken verursachen, für Eindrücke von außen her verschlossen. Das Auge allein ist wachsam and späht scharf voraus. Von seiner Schärfe und der Schnelligkeit, mit der es fähig ist, rasch vorüberziehende Eindrücke zu erfassen, hängt es allein ab, ob der Zug den für ihn gestellten Signalen gehorcht und die Strecke sicher durcheilt, oder ob er über ein Haltezeichen hinausfährt and damit möglicherweise in sein Verderben läuft.

Das ganze Signalwesen, wie es auf den deutschen Bahnen und mit wenig Abänderungen in der ganzen Welt gebräuchlich, ist eigentlich recht primitiv. Die heutige Signalgebung durch Stellen von horizontalen Armen, die an hohen, senkrechten Stangen angebracht sind, durch die sogenannten Semaphoren, war schon in Anwendung, als Züge wie sie heute auf jeder Schnellzugstrecke üblich sind, noch undenkbar erschienen. Nun ist es aber ein anderes, die Stellung eines kurzen Armes bei einer Geschwindigkeit von vierzig, ein anderes, diese Stellung bei einer Stundenschnelligkeit von hundert Kilometern zu erfassen.

Nichts ist einfacher für einen Lokomotivführer, als solch ein Signal zu überfahren. Denn der Semaphor ist ein leicht zu mißachtender Kommandeur; er steht, ob er ja oder nein sagen will, stets in respektvoller Entfernung von der Schiene, und seine Wirkungsfähigkeit auf den Lokomotivführer ist keine physische, sondern lediglich eine moralische. Für den Betrieb ist an sich die Stellung des Signalarms - ob wagerecht = halt oder schräg = freie Fahrt - gänzlich belanglos, in jedem der beiden Fälle hat der Führer die Schiene zur freien Fahrt von sich. Eine moralische Bindung erst, die Verpflichtung auf die Paragraphen seiner Dienstvorschrift veranlaßt ihn, dem Signal Wert beizumessen. Und verläßt ihn seine „Moralität“ einmal, wird er auch nur für einen einzigen unglücklich gewählten Augenblick lässig im Dienst, dann überfährt er eben das Signal.

Der nächstliegende Gedanke wäre nun, die rein optischen Signale in mechanisch wirkende umzuwandeln, das heißt eine automatische Bremsung der Züge zu veranlassen, sobald die vorliegende Strecke nicht frei ist. Doch davon ist wohl ein für allemal Abstand genommen worden. Denn die Zuverlässigkeit eines Apparats ist immerhin noch bedeutend geringer als die irgendeines Menschen. Wenn den automatische Apparat einmal versagen würde - und es gibt keinen Apparat, der nicht doch einmal versagte - dann wäre der Lokomotivführer nicht so leicht bei der Hand wie heute, um ein Unglück zu verhüten. Denn er hätte den größten Teil seiner Verantwortung an den Apparat abgegeben, und seine Aufmerksamkeit würde wahrscheinlich vollkommen von den Vorgängen auf den Maschine selbst absorbiert werden. Den Führer wie der Heizer würden überhaupt nicht mehr auf die Strecke achten, denn eine Schnellzugmaschine vermag schon zwei Männer für ihre Wartung voll in Anspruch zu nehmen.

Der Heizer ist ausschließlich mit der Beobachtung des Wasserstandglases und des Manometers beschäftigt. Bei dem kolossalen Wagengewicht, mit dem die Maschinen heute belastet werden, darf das Einschalten der Wasserzuführung für den Kessel oder das Aufwerfen frischen Kohle auf den Rost nicht eine Minute zu spät erfolgen. Sonst ist die Lokomotive eine Zeitlang nicht imstande, ihre Höhstleistung zu entwickeln, die Fahrgeschwindigkeit würde sinken, und schon wären die sehr straff gespannten Fahrplanzeiten nicht mehr innezuhalten. Indes der Heizer den Kessel versorgt, hat der Führer die Apparate von sich, die den Lauf den Maschine regeln. Da ist der große Regulatorhebel, das Zentralwerkzeug, der das Dampfzuführungsrohr vom Kessel zu den Zylindern öffnen und sperren und damit auch die Geschwindigkeit einstellen kann. Kaum minder wichtig ist der blinkende Messinggriff der Luftdruckbremse. Wenn er gedreht wird, legen sich an sämtliche Räder des Zuges die Bremsklötze an und mindern die lebendige Kraft der fahrenden Wagen. Dann gibt es noch den Hebel zum Oeffnen des Sandstreuers, falls die Räder bei Glatteis auf den Schienen gleiten sollten, das Ventil der Pfeife, das große Rad zum Umlegen den Schieber, wodurch die Maschine in den Stand gesetzt ist, bald vorwärts und bald rückwärts zu fahren, die Klappe zur Regelung des Grades der Dampfüberhitzung, den Griff zur Einstellung der Luftpumpe, zum Auspressen des bei Stillstand der Lokomotive durch Kondensierung des Dampfes in den Zylindern sich bildenden Wassers mittels direkten Dampfdrucks und noch eine große Zahl anderer beweglicher Stangen und Stänglein.

Und ein Mensch ist es schließlich, der dafür zu sorgen hat, daß das ganze ungemein komplizierte Getriebe richtig funktioniert, der bei der stürmenden Fahrt durch die Nacht gleichzeitig die vorbeitanzenden Lichter den Signale scharf beobachten und durch Hebelstellungen das Leben all der Menschen schützen muß, die da in den hellerleuchteten Abteilen sorglos in ihren Kissen liegen. Die Figur des Mannes mit den spähenden Augen dort hinter dem ovalen Fenster der Lokomotive, der diese ungeheure Verantwortung auf seinen starken Schultern trägt, sie ist die poetischste Erscheinung im ganzen Betrieb der Eisenbahn.

Quelle

Erschienen in: Das Reich der Kraft. S.91-98. Vita Deutsches Verlagshaus, Berlin-Charlottenburg 1912. Das Büchlein stellt Werke der bildenden Kunst aus der Dresdner Ausstellung "Stätten der Arbeit" vor, die von passenden Texten begleitet werden.

Kurzbiographie

Über den Autor: Arthur Fürst (*23.02.1880; † 13.05.1926) stammte aus der westpreußischen Provinz und zog um 1900 nach Berlin, um an der Technischen Hochschule Berlin (später Technische Universität Berlin) Maschinenbau und Elektrotechnik zu studieren. Er befasste sich vorwiegend mit technisch populären Themen seiner Zeit, insbesondere dem Fernmeldewesen, der Eisenbahn und der Elektrizität in ihren vielfältigen Anwendungen. Fürsts Bücher erfreuten sich in den 1910er- und 1920er-Jahren außerordentlicher Beliebtheit. Berühmt wurde er unter anderem durch das gemeinsam mit Alexander Moszkowski verfasste Buch der 1000 Wunder, in dem Albert Einstein als „Galileo des 20. Jahrhunderts“ gewürdigt wurde. Darüber hinaus verfasste Fürst Biografien über den AEG-Gründer Emil Rathenau und über Werner von Siemens. Sein umfangreichstes und bekanntestes Werk ist "Das Weltreich der Technik" in vier Bänden. Der erste Band, Telegraphie und Telephonie, erschien 1923 im Ullstein-Verlag. 1924 folgte Verkehr auf dem Lande, 1925 Der Verkehr auf dem Wasser und in der Luft" und 1927, posthum, Kraftmaschinen und elektrischer Starkstrom. Artur Fürst starb im Jahr 1926 im Alter von nur 47 Jahren und konnte daher den vierten Band nicht mehr selbst vollenden. Sein Freund Hans Dominik ergänzte das fehlende Kapitel. Ab 1933 wurde Fürsts literarisches Werk von den Nationalsozialisten aufgrund der jüdischen Herkunft des Autors verboten und geriet dadurch auch in der Nachkriegszeit weitgehend in Vergessenheit. Dennoch veröffentlichten einige Verlage in jüngerer Zeit Nachdrucke einiger seiner Werke. [Wikipedia]